Darin findet sich Aussagen zum aktuellen Kenntnisstand der Ursachen psychischer Störungen und zur pharmakologischen Behandlung.
Fettung und Ergänzungen (kursiv) von mir.
http://www.mind-and-brain-blog.de/wp-co ... -D-162.pdfDer Zusatznutzen eines neuen Psychopharmakons ist mit den vorhandenen und etablierten Methoden kaum nachzuweisen. Dies liegt ganz wesentlich an unserer gegenwärtig unzureichenden Kenntnis der Ursachen psychischer Störungen, der fehlenden Möglichkeit ihrer Subtypisierung, dem Fehlen valider Biomarker sowie der fast völligen Unkenntnis differenzieller Therapieprädiktoren.
Es handelt sich bei „der“ Depression um eine große, heterogene Gruppe von Erkrankungen, die seit der Einführung des DSM-III im Jahr 1980 rein klinisch phänomenologisch klassifiziert werden. Nach dem amerikanischen Diagnosesystem DSM-5, das sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich von der ICD-10 unterscheidet, ist Voraussetzung für die Diagnose einer Depression entweder das Vorhandensein von depressiver Verstimmung oder von Interesse- oder Freudlosigkeit. Zusätzlich müssen mindestens vier von weiteren sieben Kriterien vorhanden sein. Zwei Patienten können also an einer depressiven Episode erkrankt sein, ohne mehr als ein einziges Symptom gemeinsam zu haben. Insgesamt ergeben sich daraus 227 mögliche Symptomkombinationen für ein depressives Syndrom (van Loo et al., 2012).
Über Jahrzehnte hat man versucht, Subtypen depressiver Störungen klinisch zu charakterisieren, um daraus differenzielle Therapieindikationen abzuleiten. Die Bemühungen fassen van Loo et al. (2012) so zusammen: „There is no conclusive evidence for the existence of depressive symptom dimensions or symptomatic subtypes in adults with MDD. […] If there is any structure to be discovered in the current heterogeneity, consideration of those choices would provide an useful starting point for future studies.” (van Loo et al., 2012).
(Es gibt keine schlüssigen Beweise für die Existenz von depressiven Symptomdimensionen oder symptomatische Subtypen bei Erwachsenen mit Major Depressionen. [ ...] Wenn irgendeine Struktur in der aktuellen Heterogenität entdeckt werden könnte, würde die Berücksichtigung dieser Auswahl nützlich sein als Ansatzpunkte für zukünftige Studien)
Depressive Störungen unterscheiden sich nicht nur in ihrer Phänomenologie (Beschreibung und Einteilung der Erscheinungen (Phänomene)), sondern auch in ihrer Ätiologie (Erforschung der Ursache der Entstehung von Krankheiten). Betrachtet man alleine die Hypothesen zur Neurobiologie depressiver Störungen, so existieren derzeit mindestens vier verschiedene Gruppen von ätiologischen Vorstellungen:
1. gestörte monoaminerge Neurotransmission,
2. gestörte Feedbackkontrolle der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse),
3. neuroinflammatorische Prozesse, und
4. gestörte Neuroplastizität bzw. Neurogenese (Jentsch et al., 2015).
Wahrscheinlich sind viele dieser Prozesse auch gar nicht voneinander zu trennen. Es ist daher naheliegend, dass man eine solche biologigsche Heterogenität nicht mit einem einzelnen diagnostisch oder therapeutisch relevanten Biomarker charakterisieren kann. Von der Definition ganzer Panels von Biomarkern für einzelne Störungen ist man derzeit jedoch möglicherweise noch Jahrzehnte entfernt.
Auch die vorhandenen genetischen Daten legen nahe, dass es sich bei dem Krankheitsbild der Depression um einen undifferenzierten Phänotypen (Menge aller Merkmale eines Organismus, bestimmt durch Zusammenwirken von Erbanlagen und Umweltfaktoren) handelt, der eine gemeinsame Endstrecke der verschiedensten Pathomechanismen (Kausalkette von Körpervorgängen, die in ihrer Gesamtheit zu einer Krankheit führen) darstellt.
Während für viele somatische Erkrankungen, aber auch für einzelne psychische Störungen wie Schizophrenien, in den letzten Jahren Risikogene bzw. Risikogenloci identifiziert werden konnten, gilt dies für depressive Störungen in viel geringerem Maße. Flint und Kendler (2014) schlussfolgern in ihrer exzellenten Übersicht zur Genetik der Major Depression: „The failure of GWAS analysis of more than 9,000 cases of MD […] to find robust evidence for loci that exceed genome-wide significance is compatible with a paradigm in which the majority of the genetic variance is due to the joint effect of multiple loci of small effect. Twin studies and SNP-based heritability tests of the samples used for genomewide association discount the possibility that there are no genetic effects to be found, leaving two nonmutually exclusive possibilities: either the effects are smaller than expected and/or the disorder is heterogeneous: different diseases might manifest with similar symptoms (incorrectly identified as the same illness), or there may be many different pathways to the same outcome (different environmental precipitants trigger MD in different ways, according to the genetic usceptibility of the individual).” (Flint und Kendler, 2014).
Aus all dem wird deutlich, dass der Kliniker bei jedem Patienten mit einer Depression vor der Aufgabe steht, eine möglichst effektive und gleichzeitig nebenwirkungsarme Therapie durchzuführen, ohne jedoch zu wissen, welche spezifische Therapie für den individuellen Patienten die beste ist. Ein therapeutisches Verfahren, das im Wesentlichen auf Versuch und Irrtum basiert, wird daher zu relativ bescheidenen Ansprechraten führen. Zudem erschwert es den klinischen Nachweis von Substanzunterschieden, denn jede Doppelblindstudie an heterogenen Patientenkollektiven wird diese egalisieren (Belzung, 2014). In der klinischen Praxis wird versucht, durch Versuch und Irrtum, gepaart mit klinischer Erfahrung (z.B. Einbeziehung früheren Ansprechens auf das Pharmakon, Vorliegen von Komorbiditäten, Nebenwirkungsprofil) das optimale Medikament für den individuellen Patienten zu finden. Dies gelingt, wie die STAR*D-Studie gezeigt hat, oftmals erst nach zahlreichen, aufeinanderfolgenden Versuchen, die zeitaufwendig und – zumal, wenn sie stationär erfolgen – teuer sind. Dabei scheinen selbst sehr unterschiedliche pharmakologische Strategien, wenn man sie rein statistisch vergleicht, eine ähnliche Wirksamkeit aufzuweisen (Rush et al., 2006).
Der Kliniker jedoch ist dankbar für jede Erweiterung der therapeutischen Möglichkeiten um Substanzen, die sich im Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil von den verfügbaren Arzneimitteln unterscheiden. Leider haben all diese Erwägungen im vorliegenden Verfahren keinerlei Rolle gespielt.