Das Interview findet vor dem Hintergrund statt, dass Studien zeigen, dass Antidepressiva kaum besser wirken als ein Placebo, also ein Scheinmedikament ohne Wirkstoff. Gut die Hälfte der Wirkung eines Antidepressivums lässt sich (rechnerisch auf Daten der Studien) auf eine Placebo-Wirkung zurückführen, ein Viertel auf einen echten pharmakologischen Effekt und ein Viertel ist natürlicher Verlauf.
Aussagen von Tom Bschor:
Der Placebo-Effekt ist ja nichts Schlechtes. Er aktiviert Selbstheilungskräfte und bewirkt, dass es den Menschen besser geht. Aber es stimmt: Nachweislich lässt sich nur ein Viertel der Wirkung eines Antidepressivums auf einen echten pharmakologischen Effekt zurückführen. Der Rest ist Placebo-Wirkung und natürlicher Verlauf – Depressionen gehen manchmal von alleine wieder weg.
Aufklären muss man über Risiken und Nebenwirkungen. Die Pflicht, über das Ausmaß des Placebo-Effekts zu informieren, hat der Arzt tatsächlich nicht. Ich würde es in der Regel auch eher nicht tun, da mit dem Wissen oft auch die Placebo-Wirkung nachlässt.
Wichtig ist auch, dass wir Ärzte unsere Patienten nicht zur Einnahme von Antidepressiva überreden – denn ist der Betroffene ängstlich und fühlt sich zur Therapie gedrängt, wird auch kein positiver Placebo-Effekt eintreten. In der Praxis kommt das Überreden von Patienten leider zu häufig vor. Unter anderem auch, weil manche Ärzte sich mit den Antidepressiva, die sie verordnen, zu wenig auskennen.
Die meisten glauben, dass Depressionen durch einen Serotoninmangel im Gehirn verursacht werden, der sich durch Medikamente beheben lässt.
Antidepressiva erhöhen zwar die Serotoninkonzentration im Gehirn, doch daraus lässt sich nicht schließen, dass vorher ein Serotoninmangel bestand. Außerdem tritt die Serotoninerhöhung bereits nach wenigen Minuten, also fast sofort ein. Dem Patienten geht es hingegen erst nach gut vier Wochen besser. Seit einiger Zeit gibt es in Deutschland sogar ein Antidepressivum, das genau entgegengesetzt funktioniert und die Konzentration von Serotonin verringert. Trotzdem wirkt es genauso gut, an genauso vielen Patienten, in genau derselben Zeit. Einen einzigen Botenstoff für Depression verantwortlich zu machen, ist schlicht weg zu simpel.
Warum hält sich diese Mär trotzdem? Weil es an den Universitäten so gelehrt wird und Patientenbroschüren das Märchen dankbar aufgreifen. Schließlich stellt die Theorie alle Beteiligten zufrieden: Die Patienten bekommen eine Erklärung, was mit ihnen los ist, und ein Medikament, das ihnen oft tatsächlich hilft. Ärzte können auf dieser Basis ein Heilmittel anbieten und die Firmen können ihre Tabletten verkaufen.
Ärzte müssen lernen, ihre eigene Behandlung kritisch zu hinterfragen. Wenn ein Patient auf ein Antidepressivum und vielleicht auch auf ein zweites nicht anspricht, sollte ich darüber nachdenken, auf eine medikamentöse Behandlung zu verzichten. Die meisten Ärzte „medikamentieren“ so lange herum, bis sie meinen, das beste Antidepressivum gefunden zu haben. Kaum jemand gesteht sich ein: „Hier, in diesem Fall, helfen Pillen einfach nicht.“ Manche Patienten nehmen seit über zehn Jahren Antidepressiva ein, sind dauerhaft krankgeschrieben und trotzdem wird das Medikament nicht abgesetzt.
Ich finde die Auusgaen vom Tom Bschor ganz gut, aus eigenen Reihen Knackpunkte zu hören.
Problematisch finde ich, dass der Artikel bei der ganzen "wenig wirksam" Placebo-Diskussion nicht aufgreift, wie "wirksam" Antidepressiva sein können. Also ich meine, dass eine solche Diskussion ohne explizite Hinweise auf potentielle Nebenwirkungen körperlicher, kognitiver & psychischer Natur und ohne Hinweis auf ein potentielles körperliches Abhängigkeitspotential (im Sinne von körperlichen Adaptionsprozessen des Organsimus) mit ebensolchen Absetz-/Entzugsphänomenen dazu führen kann, dass diese Symptome völlig unterschätzt werden.
Nicht besser als ein "wirkungsloses Placebo"? Dann kann ich es auch problemlos nehmen und problemlos absetzen - ich denke, ihr wisst, was ich meine.
Oder wie seht ihr das?