Hier das Manuskript des Vortrages.
Guten Morgen!
Ich freue mich, heute als Vertreterin der Selbsthilfe an diesem Symposium teilzunehmen.
Ich vertrete eine besondere Form der Selbsthilfe, und zwar eine virtuelle Selbsthilfegruppe. Das heisst, der Austausch der Betroffenen über Absetzschwierigkeiten online stattfindet, über ein Forum als Austauschplattform.
Der Titel dieses Symposiums lautet ja: Neuer Umgang mit Absetzproblematiken.
Der virtuelle Austausch zu diesen individuellen Schwierigkeiten ist jedoch nicht neu. Das Forum ADFD gibt es seit 2003, also bereits 15 Jahre. Es wurde von Betroffenen und Angehörigen als private Initiative gegründet. Diese haben damals für ihre Probleme gegenseitige Unterstützung in englischsprachigen Foren gefunden - diese gab es also noch früher - und wollten diese Austauschmöglichkeit und unabhängige, kritische Informationen auch auf deutsch zur Verfügung stellen.
Online Erfahrungsberichte / virtuelle Selbsthilfe gibt es also schon länger. Was neu ist, ist das Interesse der Forschung und Fachzeitschriften am Thema. Darüber möchte ich heute sprechen, zunächst aber noch etwas zum Forum und zu Entzugssymptomatiken allgemein sagen.
Schwerpunkt bei Gründung des Forums lag auf Antidepressiva, daher auch das Akronym ADFD / das bedeutet ausformuliert Antidepressiva Forum Deutschland. Heute ist ADFD ein Eigenname für die virtuelle Gruppe geworden und gibt es Austausch zu Absetzschwierigkeiten von allen Psychopharmaka, also auch Neuroleptika und Benzodiazepine.
Es gibt weltweit mehrere Foren oder andere online-Gruppen, beispielsweise auch auf Facebook.
Manche Menschen können ihre verschriebenen Medikamente relativ problemlos absetzen. Andere haben leichte, mittelschwere oder schwerwiegende Symptomatiken, die es ihnen dann beispielsweise nicht mehr möglich machen, ihrem Beruf nachzugehen oder am sozialen Leben teilzunehmen. Im Forum finden sich aufgrund des Schwerpunktes sehr schwierige Reduktions- und Absetzverläufe mit komplexen Symptombildern und auch anhaltenden postakuten Störungen. Diese körperlichen und psychischen Symptome können über Wochen und Monate oder auch über Jahresgrenzen hinaus anhalten. Sie treten oftmals in Wellen auf.
Im Forum sprechen wir bewusst von Entzugssymptomen, weil es dem Erleben der Betroffenen entspricht. Letztendlich wird es auch in den relevanten aktuellen Fachartikeln zum Thema so gehandhabt und empfohlen. (
Neue Klassifizierung des Entzugs von Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern oder
Withdrawal Symptoms after Selective Serotonin Reuptake Inhibitor Discontinuation: A Systematic Review)
Wir gehen zudem von einem körperlichen Abhängigkeitspotential im Sinne einer neurophysiologischen Adaption bzw. Gewöhnung aus.
In allen Betroffenengruppen weltweit hat sich ein Konsens entwickelt, wie man möglichst risikoarm vor allem bei Langzeiteinnahme absetzt. Empfohlen wird ein langfristiger und kleinteiliger Ausschleichprozess von 10% Reduktionen, individuell von der jeweiligen aktuellen Dosis ausgehen, alle 4-6 Wochen. Es handelt sich um eine Orientierung. die individuell anzupassen ist. Immer wieder müssen Betroffene, die starke Absetzsymptome haben, im Verlauf noch kleinere Schritte wählen.
Im virtuellen Austausch gibt es neben der Dokumentation von Absetzverläufen auch viele Erfahrungswerte und Tipps, wie man kleine Dosisschritte herstellt. Dies kann beispielsweise über das Zählen von Kügelchen bei Präparaten wie Venlafaxin erfolgen. Manche Betroffene arbeiten mit Feinwaagen, viele unretardierte Tabletten lassen sich in Wasser auflösen um gewünschte Einheiten herzustellen. Erfreulich ist es, wenn ein kooperierender Psychiater gefunden wird, der ein Rezept für Individualrezepturen ausstellt.
In den Leitlinien zur Behandlung von Depression wird allgemein ein Ausschleichen über vier Wochen nahegelegt, ohne weiteren Bezug beispielsweise auf die Einnahmedauer. Viele der Forumsteilnehmer nehmen jedoch schon sehr lange Medikamente, ich spreche hier von 5, 10, 15 bis beispielsweise 35 Jahren.
Betroffene, die das Forum aufsuchen, haben zumeist in kurzen Zeitspannen - oft auch ärztlich begleitet - reduziert und abgesetzt und sind mit Symptomen konfrontiert, die neu und oft auch beängstigend für sie sind. Nicht selten sind die Teilnehmer sehr verzweifelt.
Viele Teilnehmer bekommen von ihrem Behandlern keine Anerkennung oder Hilfestellung. Viel zu oft herrscht das Credo vor, Symptome seien garnicht nicht zu erwarten oder wenn, dann allgemein leicht und selbstlimitierend. Dies trifft auf eine unbekannte Anzahl Betroffener jedoch nicht zu.
Warum ist es schwierig mit dem Wissen um Entzugssymptome und die Anerkennung von Absetzsyndromen?
Vielleicht gibt ein Zitat von Psychiater Dr. Jan Dreher / Blog psychaitrietogo aus dem Buch Antidepressiva absetzen von zwei Betroffenen (Mischa Miltenberg und Melanie Müller) einen Anhaltspunkt.
Dr. Dreher schreibt (Zitat)
In den etablierten Büchern zur Psychopharmakotherapie stehen Absetzsymptome erst seit wenigen Jahren drin, wenn überhaupt. Früher kannte das kein Mensch. In der Ausbildung hat mir das auch keiner erzählt. Als ich den Blogbeitrag (2014) schrieb, wusste ich auch nicht, dass es das gibt. Doch dann kamen sehr viele Kommentare von Patienten, dass es sehr wohl Absetzerscheinungen gibt.
Einen weiteren Anhaltspunkt warum es schwierig liefert eine Aussage von Dr. Ulrich Vorderholzer, zu finden bei seinem Blogbeitrag „Wieviel Antidepressiva sind zuviel“.
Er schreibt, dass Menschen die Antidepressiva – vor allem nach jahrelanger Anwendung – nur sehr schwer absetzen können oft nicht das Verständnis und die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, weil auf die Problematik bisher zu wenig Aufmerksamkeit gerichtet worden sei, aber derzeit ändere sich das ganz rapide.
Er setzt sich übrigens ganz aktuell in einem Artikel der Zeitschrift Psychiatrische Praxis mit den Pro-Argumenten für eine Abhängigkeit von Antidepressiva auseinander.
Quelle
Wenn Forumsteilnehmer ihren Behandlern mitteilen, das sie online viele Berichte von Betroffenen gelesen haben, denen es ähnlich geht, heisst es nicht selten: Ach, online kann man ja viel erzählen. Die Wichtigkeit von Onlineberichten sehen aber gerade diejenigen, die sich in der Forschung mit dem Thema Entzugssymptomatiken auseinandersetzen.
Dr. Dee Mangin (Neuseeländerin, Professorin in Kanada), führte eine Absetzstudie zu Fluoxetin durch und erklärte in einem Interview, wichtige Forschungsarbeit hätten Betroffene selbst geleistet, in dem sie sich online über ihre Symptome ausgetauscht haben und dabei ähnliche Muster entdeckt hätten.
Kurzer Hinweis zu ihrer Studie, deren Ergebnisse noch nicht veröffentlich sind: In einem Interview hat sie vorab bereits erklärt: Bei einigen Teilnehmern waren die Symptome so schwerwiegend, dass sie den Entzug nicht aushielten und sie zu ihrer ursprünglichen Medikation zurückkehren mussten.
Quelle
Auch Toni Kendrick sieht die Relevanz der Onlineberichte. Er führt in den UK eine Langzeitstudie zum Absetzen von AD durch und erklärt in einem Interview, dass es zunehmend Berichte von Betroffenen gäbe, die nach dem Absetzen Symptome bekommen, die sehr lange anhalten können über Monate und Jahre. Diese Bericht fänden sich v.a. in den themenspezifischen Online-Gruppen und diese seien daher sehr hilfreich, um Fallbeispiele zusammenzutragen.
Quelle
Welche Literatur gibt es zum Thema Online-Erfahrungsberichte?
Studie 2012, Psychotherapy and Psychosomatics, Autoren: Carlotta Belaise et al.
Quelle (ist wie viele anderen aktuelle Artikel zum Thema im Forum im Bereich Hintergrundinfos verlinkt und teilweise übersetzt)
Analysiert wurden im Internet veröffentlichte Beschreibungen, die von siginifikanten akuten Entzugssymptomen und auch von Langzeitentzugsyndromen berichten. Letzteres verstehen die Autoren als tardive Rezeptorensensibilitätsstörung.
Ergebnisse:
Die Studie bestätigt die Symptome, die in der Literatur als diejenigen geführt werden, die am häufigsten auftreten. Körperliche Symptome können beispielsweise Kopfschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Schwindel, Tinnitus und Gangstörungen und viele andere sein.
Im Forum außerdem häufig beschrieben: ausgeprägte körperliche Schwäche, Verspannungen, Schmerzen, Herzrasen, Störungen des Immunsystems (häufige Entzündungen und Infekte), massive Reizüberempfindlichkeit, beispielsweise auf Licht und Geräusche
Signifikante anhaltende postaktute Symptome psychischer Natur würden laut Studie u.a. aus Angststörungen, Panikattacken, verspätet einsetzende Schlaflosigkeit, depressiven Verstimmungen, emotionale Instabilität, Reizbarkeit, und andere bestehen
Weitere Ergebnisse:
Auch nach einer sehr allmählichen Reduzieren treten nach den meisten Studien noch neue Entzugserscheinungen auf, was auch in dieser Studie zu Onlineerfahrungsberichten bestätigt wird.
Die Autoren erklären:
Eine Neubewertung von tardiven, also verspätet einsetzenden anhaltenden Entzugssstörungen könne auch zu einem besseren Verständnis von Rebound, Wiederauftreten und Rückfall beitragen. Neue Forschung, wie diese Symptome zu interpretieren seien und sie zu beschreiben sei dringend erforderlich
Auch bei uns im Forum kann man Berichte vom zeitversetzten Auftreten der Symptome nach Reduktionen oder nach Null lesen, dies können Tage als auch Wochen nach dem Absetzen sein.
Die führende Forscherin der Studie, Carlotta Belaise, erklärte in einem Interview:
Zitat: Was mich bei der Erforschung dieser Berichte beeindruckte, war, dass diese Patienten sich von der offiziellen Psychiatrie so alleingelassen fühlen.
Ganz neue Studie 2018, International Journal of Risk and Safety in Medicine. Autoren: Tom Stockman et. al. unter Leitung von Joanna Moncrieff.
Quelle
Analysiert wurden ebenfalls Betroffenenberichte aus dem grössten amerikanischen Forum, surviving antidepressants, gegründet 2011.
Ein Ergebnis:
„Die berichtete maximale Dauer von Entzugssymptomen überstieg deutlich die Obergrenze, die im allgemeinen bei Patienten angenommen wird. (durchschnittliche Dauer bei den Betroffenen: 21 Monate SSRI / 12 Monate SNRI)
Weiteres Ergebnis:
Es gibt Symptombeschreibungen, die schon standardisiert erfasst wurden wie BrainZaps, aber auch solche, die bisher nicht klassifiziert sind und weniger bekannt sind: „Gehirn-Schwappen“, „der Augenbewegung hinterher hinkende Sicht“ oder „Wattegefühl im Kopf“/oft auch als Brain Fog beschrieben.“
Weitere Phänomene die im Forum beobachtet werden können:
Viele Betroffene entwickeln im Entzug erstmalig Unverträglichkeiten, sie reagieren mit unerwünschten Auswirkungen auf weitere Psychopharmaka, andere ZNS-aktive Medikamente, für Narkosemittel, Antibiotika, Betablocker, Antihistaminika, Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine (u. a. B und D) oder Schilddrüsenmedikamente. Es können auch Nahrungsmittelunverträglichkeiten (u. a. Histamin) oder Allergien erstmals auftreten.
Ebenfalls finden sich im Forum Berichte, dass unklare neurologische Symptome im Einzelfall zu Verdachtsdiagnosen wie Polyneuropathie, MS, Tumoren führen und demzufolge zu weiteren Untersuchungen, zumeist ergebnislos.
Letztes wichtiges Ergebnis der Studie:
Die Autoren stellten fest, dass die Dauer der Entzugssymptome mit der Dauer des Ausschleichens korrelierte, was „darauf schließen lässt, dass Menschen mit schweren und verzögerten Entzugssymptomen ihre Antidepressiva nur langsamer reduzieren können“.
In deutschen Fachmedien ist meines Wissens wenig von Entzugssymptomen und Online-Erfahrungsberichten zu lesen.
Ausnahmen sind beispielsweise die unabhängige medizinische Fachzeitschrift Arzneimittelbrief
Quelle. Hier erschien 2015 ein Artikel und die Autoren erklären u.a.
Die Psychiatrie sehen wir in der Pflicht, praktikable Strategien für das Absetzen zu entwickeln und in der ärztlichen Fortbildung flächendeckend zu propagieren.
Ein weiterer Artikel erschien in der Ausgabe 5/2018 der pharmakritischer Arznei- und Gesundheitszeitschrift „Gute Pillen - Schlechte Pillen“.
Quelle
Zudem veröffentlichte Peter Lehmann 2016 den Artikel „Antidepressiva absetzen - Massive Entzugsprobleme, keine professionellen Hilfen“ im Rundbrief des Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener.
Quelle
Allerdings: von einem Redaktionsleiter des deutschen Ärzteblattes habe ich vor kurzem auf Nachfrage die Information erhalten, dass man derzeit ein entsprechendes Manuskript zu Absetzproblematiken vorbereiten lässt. Ich bin gespannt, ob und wann es veröffentlich wird.
Das Thema Absetzschwierigkeiten wird letztendlich immer mehr beachtet, was man beispielsweise auch daran sieht, dass die Psychiatric Times im Februar diesen Jahres dem Thema Online Communities zum Austausch bei Entzugssymptomatiken einen Leitartikel gewidmet hat und die Autoren erklären, was man aus diesen Foren lernen kann.
Quelle
Autoren erklären, dass immer mehr Betroffene Austausch in Online-Community suchen und sich durch diese Foren wie nie zuvor vernetzen könnten.
Wichtige Einschätzungen der Autoren aus dem Artikel sind folgende:
- Online-Gemeinschaften würden zeigen, dass viele Ärzte nicht auf Entzugsstörungen vorbereiten sind und es Lücken gibt, diese Symptome zu behandeln oder Patienten durch komplizierte Entzüge zu begleiten.
- Entzug sei nicht für alle gleich, es gäbe eine Heterogenität der Symptome. Daher sei es eine Herausforderung und dringend erforderlich, diagnostische Kriterien zu entwicklen, die helfen die Syndrome zu erkennen.
- Es sei zudem unklar, wieviele Ärzte sich bewusst seien, wie vielfältig Entzugssyndrome sein können. Dies könne zu Fehldiagnosen führen und die Symptome beispielsweise einer psychischen Störung zugeordnet werden oder einer neuen körperlichen Erkrankung.
- Die Autoren erklären zudem, dass die Anerkennung, dass der Patient eine iatrogene (durch ärztliche Massnahmen verursachten) Komplikation hat, sei essentiell für den Recovery-Prozess.
- Auch wenn viele Menschen keine größeren Schwierigkeiten hätten, diese Medikamente abzusetzen, würde deutlich, dass Entzugssyndrome nicht selten sind, was auch ein wichtiges Thema für das Gesundheitswesen und die Verschreibungspraxis allgemein sei.
Ein abschließendes Fazit der Autoren lautet:
Ein allgemeines Verständnis von komplexen Entzugssituationen und die Anerkennung der Syndrome sei von höchster Wichtigkeit, da sich sonst die Betroffenen vom medizinischen Establishment abwenden und ihre Unterstützung rein im Internet suchen würden. Autoren empfehlen: Fachkräfte sollten sich zudem mit Online-Communities vertraut machen.
Dieses Fazit möchte ich ergänzen.
Seit sehr vielen Jahren bleibt zu vielen Betroffenen nur die virtuelle Selbsthilfe.
Das ist keine ideale Situation sondern mehr als unglücklich, wenn Wissen, Anerkennung und Unterstützung im echten Leben fehlen und es viel zu oft heisst: Ihre Probleme können garnicht oder nicht in dieser Schwere und Dauer mit der Reduktion oder dem Absetzen ihrer Medikamente zusammenhängen.
Es wäre schön, wenn Sie alle dazu beitragen, dass sich das Wissen um und die Anerkennung von Absetzproblematiken weiter verbreitet und Betroffene bereits beim Reduzieren und Absetzen besser unterstützt werden - beispielsweise indem Sie über potenzielle Entzugsprobleme aufklären oder längere, kleinteiliger Ausschleichprozesse begleiten, damit es erst garnicht erst zu komplexen Entzugsbeschwerden kommt.
Viele Dank für Ihre Aufmerksamkeit.